52 Jahre Deutschland. 52 Jahre zwischen höflicher Duldung und stiller Enttäuschung. Ein Land, das mir Arbeit gab, aber kein Willkommen. Ein Land, das Begriffe wechselte – und doch dieselbe Haltung behielt.
🎭 DIE GESICHTER DER STÖRUNG

Seit 52 Jahren lebe ich in diesem Land.
Ich habe seine Winter überstanden, seine Bürokratien, seine Blicke. Ich habe gelernt, die kleinen Unterschiede zu lesen – zwischen höflichem Respekt und geduldeter Anwesenheit. In diesen fünf Jahrzehnten war ich Bürger, Steuerzahler, Nachbar, Vater, Beamter.
Und Ausländer.
Das war ich immer. Auch mit deutschem Pass. Auch mit besserem Deutsch als die meisten, die mich für fremd hielten.
Etwa siebzig Prozent der Menschen in meinem Leben haben mich willkommen geheißen. Dreißig Prozent nicht. Das ist eine akzeptable Quote – für ein Land, das sich gern „weltoffen“ nennt. Aber die Öffentlichkeit, die Stimme, die über allem liegt, hat mich nie willkommen geheißen.
Kein einziges Mal.
Sie sagte Gastarbeiter, als wären wir auf Besuch.
Sie sagte Integration, als müssten wir uns erst beweisen.
Sie sagte Migration, als wären wir eine Bewegung – keine Menschen.
Und sie sagt bis heute Stadtbild, wenn sie meint: zu viele von uns.
Ein Kanzler Merz steht da, mit dem Selbstverständnis eines Platzherren, und sagt, ihn störe Das Stadtbild.
Mich stören andere Dinge: die Faschos im Parlament, die Faschos in Hotels, die zu Gigi-D’Agostino-Liedern „Ausländer raus“ singen.
Mich stört, dass einer wie Merz den Ton wieder setzt, den man aus der Geschichte längst entfernt glaubte.
Mich stört, dass Millionen Deutsche zuhören – und nicken.
Denn dieser Satz war kein Ausrutscher. Er war ein Offenbarungseid.
Er hat nicht entlarvt, wer Friedrich Merz ist.
Er hat gezeigt, was Deutschland immer noch ist.
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🧱 DAS GEDÄCHTNIS DER WAND
Deutschland hat ein kurzes Gedächtnis, aber ein tiefes Misstrauen.
Es vergisst seine Taten, doch nie seine Kategorien.
In den Siebzigern war ich das Kind eines Gastarbeiters, später der Türke aus der Nachbarschaft, dann der Kollege mit Migrationshintergrund. Immer dasselbe Gesicht, nur andere Etiketten. Das Land wechselte Begriffe, nicht Haltung.
In den Achtzigern riefen sie, wir würden ihre Jobs nehmen.
In den Neunzigern brannten unsere Häuser – und man nannte das Fremdenfeindlichkeit, als wäre es eine Gefühlsschwankung.
In den Nullerjahren sprachen sie von Integration, aber meinten Assimilation.
Und heute, 2025, sagt ein Kanzler, das Stadtbild störe ihn.
Die Formen verändern sich, das Prinzip bleibt:
Die Mehrheit definiert die Normalität – und alle anderen dürfen an ihr teilnehmen, solange sie leise bleiben.
Ich habe in dieser Öffentlichkeit nie dazugehört, egal wie viel ich tat, wie korrekt ich sprach, wie rechtschaffen ich lebte.
Ich war immer der, an dem man seine Toleranz messen konnte.
Ein Prüfstein, kein Mitbürger.
Vielleicht ist das die perfideste Form des Rassismus: nicht der Hass, sondern die Höflichkeit, die Grenzen zieht.
Das Lächeln, das sagt: „Du gehörst dazu – aber vergiss nie, woher du kommst.“
Dieses Land ist nicht rückfällig geworden.
Es war nie geheilt.
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🩸🧤 DIE SPRACHE DER SAUBEREN HÄNDE
Rassismus in Deutschland trägt selten Springerstiefel.
Er trägt Maßanzug, spricht ruhig und nennt sich Realpolitik.
Er versteckt sich in Talkshows, in Leitartikeln, in Wahlkampfstrategien, die von „den Problemen in unseren Städten“ reden und dabei meinen: Menschen mit dunklerer Haut als die Studiobeleuchtung erlaubt.
Die deutsche Öffentlichkeit hat ein Talent entwickelt, Schmutz mit Stil zu tarnen.
Sie braucht keine offenen Parolen mehr – sie arbeitet mit Codes.
Man spricht von „Parallelgesellschaften“, von „Importen patriarchaler Strukturen“, von „unserer Leitkultur“.
Man schafft Begriffe, die so klingen, als gingen sie alle an, aber gemeint sind immer dieselben.
In dieser Rhetorik liegt die eigentliche Gewalt.
Denn sie wäscht die Hände, bevor sie schlägt.
Sie erklärt Diskriminierung zum Sachverhalt, Abwertung zum Diskurs, Angst zur Meinung.
Und während die Mikrofone rauschen und Politiker sich gegenseitig versichern, wie komplex alles sei, spüren Millionen Menschen nur eins: dass sie wieder Thema sind, nicht Teil.
Die Sprache in diesem Land hat gelernt, unblutig zu verletzen.
Sie sticht nicht, sie trocknet aus.
Sie entzieht Zugehörigkeit Wort für Wort, bis man begreift, dass man hier zwar sprechen darf, aber nie gemeint ist, wenn von „wir“ die Rede ist.
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🙈 🙉 🙊 DAS SCHWEIGEN DER SIEBZIG
Ich habe immer geglaubt, dass die Mehrheit gut ist.
Dass sie uns sieht. Dass sie uns verteidigt, wenn es darauf ankommt.
Ich habe ihnen vertraut – den Siebzig Prozent, die mir das Gefühl gaben, willkommen zu sein.
Aber leider schweigen sie zu oft.
Sie schweigen zu oft, wenn man uns wieder zu Problemen erklärt.
Sie schweigen zu oft, wenn ein Kanzler das Stadtbild kritisiert, das aus unseren Gesichtern besteht.
Sie schweigen zu oft, wenn der Hass wieder gesellschaftsfähig wird, solange er grammatikalisch korrekt formuliert ist.
Ich habe keine Angst vor den Dreißig.
Die kennt man, die erkennt man.
Die tragen ihre Gesichter offen.
Aber die Siebzig – sie sind das Problem, weil sie sich für uns halten und trotzdem zusehen, wie man uns wieder markiert.
Ihre Stille ist kein Zufall, sie ist Bequemlichkeit.
Ein Wohlstandsreflex. Ein „Ich hab doch nichts gegen Ausländer, aber“-Schweigen.
Vielleicht war das Willkommen, das ich gespürt habe, nie echt, sondern nur die höfliche Pause vor dem nächsten Satz.
Vielleicht war Integration nur das Versprechen, dass man uns duldet, solange wir uns nicht zu laut bedanken.
Und vielleicht ist das der Grund, warum ich trotz aller Jahre, trotz Sprache, Arbeit, Loyalität, nie angekommen bin:
weil Ankommen voraussetzt, dass jemand da ist, der die Tür offen hält.
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🔥 DER ZORN DER ANGEKOMMENEN 🔥
Ich habe alles getan, was dieses Land verlangt hat.
Ich habe seine Sprache gelernt, seine Gesetze studiert, seine Steuern gezahlt, seine Kinder erzogen. Ich habe ihm Loyalität gezeigt, während es mir nur Duldung gewährte. Ich habe die Hand gereicht, während es prüfte, ob sie sauber genug ist.
Und jetzt steht da ein Kanzler und sagt, er störe sich am Stadtbild.
An mir.
An meinen Freunden, an den Gesichtern, die dieses Land längst mittragen.
An jenen, die Busse fahren, Schichten drehen, Kinder großziehen, Firmen führen, Krankenhäuser putzen, Städte am Laufen halten.
Er störe sich also an der Wirklichkeit – weil sie ihn daran erinnert, dass Deutschland nie nur weiß war.
Ich bin müde davon, mich immer wieder zu erklären.
Müde davon, Menschen zu sehen, die das Wort „Integration“ in den Mund nehmen, aber nie das Wort „Respekt“.
Müde davon, dass jeder Rückschritt als „Debatte“ verkauft wird.
Ich bin kein Gast.
Ich bin Teil des Hauses – und ich habe lange genug zugesehen, wie es verwahrlost.
Wenn also jemand das Stadtbild stört, dann sind es die, die noch immer glauben, es gehöre ihnen allein.
Ich bin hier.
Ich bleibe hier.
Und ich werde nicht mehr freundlich lächeln, während man mich aussortiert.
