Früh am Morgen, Dieter hat die erste Tasse Kaffee in der Hand und das Handy in der anderen. Nicht etwa, um die Nachrichten zu lesen, sondern um sie zu schreiben. Denn Nachrichten, das weiß er, werden von den „Eliten“ kontrolliert. Er dagegen hat die Wahrheit – aus sicherer Quelle. Dieter ist bereit, die Welt zu retten. Kein Thema ist zu kompliziert, kein Argument zu schwer – schließlich gibt es ja Wikipedia und ein paar YouTube-Videos, die alles erklären.
Nach der ersten Tasse Kaffee, die er nur trinkt, weil das „Establishment“ will, dass er wach ist (aber nicht zu wach), surft er durch die Kommentarspalten. Mit einem diabolischen Grinsen und dem Knacken seiner Fingerknochen bereitet er sich auf den ersten Kommentar vor. Der Plan? Dasselbe wie immer: die Ahnungslosen zu „erleuchten“. Das erste Thema des Tages: der Klimawandel. Pff, bitte. „Die Wissenschaft ist sich doch gar nicht einig!“, schreibt er unter einen Beitrag von Greenpeace. Er ergänzt noch schnell: „Klimawandel? LOL, den gibt’s schon immer. Google mal ‚Mittelalterliche Warmzeit‘.“ Wer braucht schon Studien, wenn der Nachbar bei minus zehn Grad die Heizung voll aufdreht? Seht ihr, die Erde kühlt doch ab! Der Kommentar wird mit einer Mischung aus Wut und Zufriedenheit abgeschickt. Wieder ein kleiner Sieg gegen die Lügen der „Mainstream-Medien“.
„Ich habe mich informiert“, schreibt er stolz unter den neuesten Artikel eines Wissenschaftsblogs, während er ein Gefühl der Überlegenheit verspürt. Er weiß, dass er „es drauf hat“. Und wenn er gerade nicht am Kommentieren ist, stellt er sich vor, wie die Welt auf seine Worte wartet, als wäre er eine moderne Version von Sokrates – nur ohne die ganzen Fragen, versteht sich. Die hat er nämlich längst alle beantwortet.
Ein Tag im Leben Dieters ist niemals verschwendet. Natürlich wird er auch kritisiert. Doch Kritik prallt an ihm ab wie Regen an einer gut polierten Windschutzscheibe. Denn die da draußen, die haben sein Leben nicht verstanden. In der echten Welt mag er vielleicht nicht viel vorweisen können – keine Beförderung, keine lange Karriere, und das Studium hat er nach einem Semester abgebrochen. Aber hier, hier hat er Macht. Jedes „Like“ auf seinen Kommentar füllt die Leere in ihm mit einem kurzen Rausch des Triumphs. Jede Antwort, selbst wenn sie nur aus Beleidigungen besteht, zeigt ihm: „Ich habe sie erreicht.“ Und das ist das Einzige, was zählt. „Das ist nur die Kognitive Dissonanz der Schafe“, denkt er. Sie wollen einfach nicht aufwachen.
Er versteht sich als den Provokateur. Für ihn ist das die höchste Form der Diskussion. Er sieht es als persönlichen Erfolg, wenn er mit seinen Kommentaren andere zur Weißglut treibt. Ein „kontroverser Beitrag“ ist für ihn nicht etwa ein Gedanke, der eine tiefgehende Debatte anstoßen könnte – nein, kontrovers bedeutet für ihn, dass jemand wütend auf seine Worte reagiert. „Mission erfüllt“, denkt er sich, während er den nächsten scharfsinnigen Satz in die Tastatur hämmert. Aber meistens jedoch reicht ihm ein Deppensmiley.
Manchmal, wenn er ganz allein vor seinem Bildschirm sitzt, schleicht sich ein flüchtiger Gedanke in seinen Kopf. „Was, wenn ich falsch liege?“ Diese Frage ist wie ein Gift, das er sofort bekämpfen muss. Denn wenn dieser Gedanke die Oberhand gewinnt, bricht sein ganzes Kartenhaus zusammen. Er könnte es nicht ertragen, sich einzugestehen, dass all die Zeit, die er in Foren und Kommentarspalten verbracht hat, auf falschen Annahmen basierte. Was würde dann von ihm bleiben? Ein Mann ohne Erfolge, ohne Bedeutung, ohne Gewissheit? Nein, das ist undenkbar.
Und so zieht sich der Tag dahin, ein Kommentar nach dem anderen. Für Dieter gibt es keine Grautöne, nur Schwarz und Weiß. Seine Welt ist simpel gestrickt: Sein Wissen wird zur Wahrheit, und jeder, der widerspricht, ist Teil des Problems.
Abends legt er sich zufrieden ins Bett. Die Welt hat sich zwar nicht geändert, aber das liegt natürlich daran, dass die Welt einfach nicht bereit für seine Größe ist. Aber eines Tages… eines Tages wird man ihm danken. Bis dahin bleibt er der Retter der Welt – bewaffnet mit maximalem Halbwissen, einem WLAN-Router und einem Kommentar-Button.
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