oder warum +6 °C näher ist, als du denkst
1 – Die Temperatur der Selbsttäuschung
Die meisten Menschen glauben, der Klimawandel liege irgendwo zwischen „spürbar“ und „zukünftig“.
Ein realer Prozess, ja – aber einer, der sich langsam vollzieht, berechenbar bleibt und uns zumindest noch Jahrzehnte lässt, bevor es ernst wird. So lautet das Narrativ.
Gleichzeitig melden meteorologische Institute jeden Monat neue Rekordwerte.
Die Ozeane sind wärmer als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen.
Permafrostböden tauen, der Jetstream eiert, das arktische Meereis erreicht immer neue Tiefststände – und in vielen Regionen der Welt liegen die Temperaturen regelmäßig mehrere Grad über dem langjährigen Mittel.
Offiziell jedoch – so die beruhigende Statistik – befinden wir uns global betrachtet erst bei etwa +1,2 bis +1,5 °C im Vergleich zur vorindustriellen Zeit.
Die „2-Grad-Grenze“ gilt politisch weiterhin als Maßstab für eine „gerade noch kontrollierbare“ Klimakrise.
Was dabei selten erwähnt wird: Diese Grenzwerte sind politisch gesetzte Korridore, keine geophysikalischen Schwellen.
Die realen Prozesse im Erdsystem verlaufen nicht in runden Zahlen –
und sie warten auch nicht auf das nächste IPCC-Update.
Der Kipppunkt der Biosphäre – jener Moment, ab dem die planetaren Systeme in eine neue, sich selbst verstärkende Dynamik kippen – ist kein Knall.
Er ist ein schleichender Systemwechsel, der längst begonnen hat.
Und der Weg zu +6 °C ist keine ferne Science-Fiction, sondern eine zunehmend wahrscheinliche Realität.
Nicht linear. Nicht stabil. Nicht aufzuhalten – wenn bestimmte Schwellen überschritten werden.
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2 – Der Kipppunkt der Biosphäre – Warum +6 °C kein fernes Szenario ist
In der Klimaforschung gilt ein Kipppunkt als kritische Schwelle, bei deren Überschreitung ein System irreversibel in einen neuen Zustand übergeht.
Diese Schwellen sind teils geophysikalisch messbar, teils probabilistisch – aber immer folgen sie einem gemeinsamen Prinzip:
Sind sie einmal überschritten, lässt sich das vorherige Gleichgewicht nicht wiederherstellen.
Für die Biosphäre bedeutet das:
Ab einem bestimmten Grad der Erwärmung verlieren die natürlichen Rückkopplungsmechanismen ihre regulierende Wirkung.
Statt CO₂ zu speichern, geben Böden, Wälder und Meere es frei.
Statt Kühlung durch Albedoeffekte gibt es zusätzliche Aufheizung.
Statt Stabilität entsteht Eigendynamik.
Aktuell diskutieren Klimawissenschaftler:innen etwa ein Dutzend solcher planetarer Kippsysteme, darunter:
- Das arktische Meereis
- Der grönländische Eisschild
- Der Westantarktische Eisschild
- Der Amazonasregenwald
- Die borealen Wälder
- Die Permafrostböden
- Die atlantische Meridionalzirkulation (AMOC)
Bereits das Kippen einzelner dieser Systeme würde massive regionale wie globale Effekte nach sich ziehen.
Das Kippen mehrerer gleichzeitig – was immer wahrscheinlicher wird – kann einen Dominoeffekt auslösen, der in der Forschung als „Kaskadierendes Kipppunkt-Szenario“ bezeichnet wird (McKay et al., 2022, Earth System Dynamics).
Der sogenannte planetare Kipppunkt der Biosphäre wird derzeit zwischen +5 und +6 °C globaler Erwärmung eingeordnet (Lenton et al., 2008 / 2019).
Das bedeutet nicht, dass die Katastrophe erst dann beginnt –
sondern dass ab dieser Schwelle die Menschheit keinerlei Kontrolle mehr über das Klimasystem hat,
selbst wenn Emissionen vollständig gestoppt würden.
Die Biosphäre kippt –
und sie kippt sich selbst.
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3 – Das Missverständnis der Linearität – Klimawandel ist kein Thermostat
Ein weit verbreitetes Missverständnis besteht darin, den Klimawandel als einen linearen Prozess zu betrachten:
Ein Grad mehr bedeutet ein bisschen mehr Hitze, ein bisschen mehr Unwetter, ein bisschen mehr Anpassungsdruck.
Diese Vorstellung ist ebenso beruhigend wie falsch.
Das Klima ist kein Thermostat, das man nachjustieren kann.
Es ist ein komplexes, vernetztes System mit nichtlinearen Rückkopplungen,
die sich gegenseitig verstärken, beschleunigen oder destabilisieren.
Und genau deshalb ist +5 auf +6 °C gefährlicher als +2 auf +3 °C –
wegen des Systemzustands, den sie markiert.
Das Klimasystem ist nicht linear.
Es ist dynamisch, träge, vernetzt – und ab einer gewissen Schwelle: explosiv.
Zuerst langsam, dann schneller – dann unumkehrbar.
📐 Physik der Erwärmung – warum Energiezunahme nicht gleich Temperaturzunahme ist
Die Erdoberfläche strahlt Wärme ab – und steht im energetischen Austausch mit der Atmosphäre.
Doch dieser Energiefluss folgt dem Stefan-Boltzmann-Gesetz:
Die Strahlungsleistung eines Körpers wächst mit der vierten Potenz seiner Temperatur.
Das bedeutet:
Ein Temperaturanstieg um ein weiteres Grad benötigt überproportional mehr Energiezufuhr –
aber genau diese Energie kommt ab einem gewissen Punkt nicht mehr nur von außen, sondern aus dem System selbst:
durch Rückkopplungen, freigesetzte Treibhausgase, albedobasierte Verstärkung.
Ein Grad ist also nicht gleich ein Grad.
Die Erwärmung von +1 auf +2 °C ist eine andere Größenordnung als die von +5 auf +6 °C –
in Wirkung, in Energie, in Geschwindigkeit.
🔁 Kippsysteme beschleunigen sich – vier Gründe, warum +6 °C schneller kommt als +3
Ab einem bestimmten Punkt entfalten die sogenannten positiven Rückkopplungen ihre volle Wirkung.
Und das macht den Klimawandel nicht nur gefährlicher – sondern auch schneller.
Hier sind die vier wichtigsten Mechanismen:
- Wegfall der dämpfenden Effekte
- Bis etwa +2 °C wirken noch natürliche Puffer:
- Ozeane nehmen CO₂ auf
- Wälder wachsen netto
- Eisflächen reflektieren Sonnenlicht
- Ab +3–4 °C sind diese Puffer erschöpft oder kehren sich um:
- Meere geben CO₂ ab
- Vegetation stirbt
- Eis verschwindet, Albedo sinkt
➤ Ergebnis: Weniger Dämpfung, mehr Beschleunigung
- Thermische Trägheit schlägt um
- Ozeane puffern aktuell etwa 90 % der überschüssigen Wärme
- Doch dieser Effekt ist nicht beliebig skalierbar – die Wärme sickert tiefer,
wo sie langsam wieder freigesetzt wird - Die Verzögerung der heutigen Erwärmung ist also eine Wärmebombe mit Zeitzünder
- Freisetzung zusätzlicher Treibhausgase
- Auftauender Permafrost setzt Methan frei (CH₄: 84× klimawirksamer als CO₂ über 20 Jahre)
- Waldbrände, Trockenheit, Insektenbefall führen zu massenhaftem CO₂-Ausstoß
- Verlust von biologischen Senken verschärft die CO₂-Konzentration
➤ Ergebnis: Das System füttert sich selbst
- Verkürzung der Zeitfenster
- Die Erwärmung von +1 auf +2 °C dauerte über ein halbes Jahrhundert
- Der Sprung von +4 auf +5 °C könnte in zwei Jahrzehnten erfolgen
- Und von +5 auf +6 °C binnen weniger Jahre, wenn Kipppunkte in Serie kippen
(→ z. B. grönländisches Eis + Permafrost + Amazonaswald)
⏳ Beschleunigung ist nicht hypothetisch – sie ist modelliert und messbar
Klimamodelle wie die des Earth System Models (ESM) oder der Earth Commission (McKay et al., 2022) zeigen klar:
Das Risiko multipler Kipppunkte steigt mit jeder halben Grad Erwärmung dramatisch an.
Diese Kippsysteme sind nicht unabhängig, sondern interagieren –und genau diese Wechselwirkungen beschleunigen die Übergänge.
Statt eines gemächlichen Anstiegs von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
stehen wir vor einem möglichen Phasenübergang –
einer Art thermischer Rutschung, die nicht mehr politisch moderierbar ist.
Die Vorstellung, man hätte zwischen jeder Gradstufe beliebig viel Zeit, ist ein Trugschluss.
Das Klima ist kein Thermostat, sondern ein Kaskadensystem.
Und je weiter wir steigen, desto steiler wird der Hang.
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4 – Was bei +2, +3, +4, +5, +6 °C passiert – Eine Stufenanalyse
Die Zahlen wirken harmlos.
Ein oder zwei Grad mehr – das klingt nach Wetter, nicht nach Zivilisationsbruch.
Doch jede Stufe der globalen Mitteltemperatur steht für einen tiefgreifenden Wandel im Erd- und Gesellschaftssystem.
Die folgende Übersicht beschreibt die qualitative Veränderung pro Erwärmungsstufe.
Nicht als Prognose im Kalenderformat – sondern als Zustandsbeschreibung eines Systems, das bereits auf dem Weg ist.
+2 °C – Das Ende der Steuerbarkeit
- Politisch oft als „Obergrenze des Machbaren“ definiert
- Viele Klimamodelle (CMIP6, SSPs) zeigen: +2 °C werden fast sicher überschritten
- Zentrale Kipppunkte beginnen zu schwanken (arktisches Meereis, Permafrost, Korallenriffe)
- Häufung extremer Wetterereignisse: Dürren, Starkregen, Hitzewellen, Waldbrände
- Ertragsrückgänge in der Landwirtschaft, besonders in Äquatornähe
- Wahrscheinlichkeit irreversibler Prozesse steigt rapide (IPCC AR6, Working Group I)
+3 °C – Die Schwelle zur systemischen Destabilisierung
- Zahlreiche CO₂-Senken kippen: tropische Wälder, Böden, Meere
- Der Amazonas droht sich in eine Savanne zu verwandeln (Lovejoy & Nobre, 2018)
- Permafrost beginnt, großflächig Methan freizusetzen
- Steigende Meerestemperaturen → Sauerstoffmangel → Zusammenbruch mariner Ökosysteme
- Migration und Konflikte nehmen weltweit zu (UNEP, WMO)
- Versicherungswirtschaft zieht sich aus ganzen Regionen zurück
+4 °C – Verlust der planetaren Resilienz
- Die Arktis ist im Sommer weitgehend eisfrei, Albedo-Effekt nahezu verloren
- Bis zu 1 Milliarde Menschen leben in Regionen außerhalb des physiologischen Toleranzbereichs (Xu et al., 2020)
- Landwirtschaft kollabiert in mehreren Schlüsselregionen (Indus, Mittelmeer, USA)
- Meeresspiegelanstieg im Bereich von 1 m – mit langfristiger Perspektive auf mehrere Meter
- Zunehmende Unregierbarkeit von Nationalstaaten durch kombinierte Krisen
+5 °C – Zivilisation am Rand des Kollapses
- Großflächiges Absterben von Wäldern → weltweiter Verlust von CO₂-Senken
- Monsoon-Systeme (z. B. Indien, Westafrika) werden instabil
- Nahrungsketten in Ozeanen brechen zusammen, Sauerstoffmangel und Versauerung
- Städte im globalen Süden unbewohnbar, Hitzetote im globalen Norden nehmen zu
- Versorgungssysteme (Wasser, Strom, Nahrung) kollabieren regional
- Autoritäre und militarisierte Reaktionen auf Klimafolgen nehmen zu (IPCC AR6 WG II)
+6 °C – Der Kipppunkt der Biosphäre
- Systemischer Kontrollverlust: Die Erwärmung verläuft nun unabhängig von menschlichem Handeln
- Methanlawinen, Eisschildkollaps, ozeanische Umwälzungen entziehen sich jedem Eingriff
- Überlebensfähigkeit großer Teile der Menschheit akut gefährdet
- Regionale Temperaturen liegen teils 10–15 °C über dem historischen Mittel
- Planetarische Hitzeregime wie in der Kreidezeit (~100 Mio. Jahre) entstehen neu
- Das Anthropozän endet – nicht mit Technologie, sondern mit Temperatur
Diese Stufenanalyse ist kein lineares Modell,
sondern eine Orientierung an bekannten Kipppunkten und systemischen Reaktionen.
Sie zeigt: Nicht die letzte Zahl ist entscheidend – sondern der Verlauf dorthin.
Und je weiter wir gehen, desto weniger funktioniert das „Zurück“.
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5 – Die Realität im Jahr 2025 – Wie nah sind wir wirklich?
Die offizielle globale Durchschnittstemperatur liegt derzeit – je nach Quelle – bei +1,2 bis +1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau (1850–1900).
Diese Zahl dominiert politische Debatten, Emissionsziele, Klimakonferenzen.
Sie suggeriert: Das Limit ist in Sicht, aber noch nicht überschritten. Es bleibt Spielraum.
Doch die Realität sieht anders aus.
Denn diese Mittelwerte glätten Extremwerte, ignorieren regionale Abweichungen und unterschätzen Kippprozesse, die längst im Gange sind.
📊 Regionale Realität: +3 bis +5 °C Abweichung sind bereits da
- Europa 2023:
+2,6 °C über vorindustriell (Copernicus/ERA5) - Kanada, Grönland, Sibirien, Arktis:
teils +4 bis +7 °C über dem historischen Durchschnitt - Weltweite Ozeane:
Wärmster Zustand seit Beginn der Messgeschichte –
mit über 90 % gespeicherter Wärme im Meer (Cheng et al., 2023) - Antarktisches Meereis:
Rekordminimum 2023, mehr als 2 Mio. km² unter dem Mittel (NSIDC) - Diese Zahlen sind keine Prognosen,
sondern gemessene Zustände.
🌍 Die globale Mitteltemperatur täuscht Stabilität vor
- Die +1,5 °C-Marke wurde bereits mehrfach monatsweise überschritten
- Der 12-Monats-Durchschnitt lag Anfang 2024 bei +1,6 °C (Copernicus)
- Die Jahresmitteltemperatur 2023 war die höchste je gemessene –
und allein von Mai bis November lagen die globalen Anomalien bei +1,8 bis +2,0 °C
Die offizielle Klimabilanz wirkt verzögert, weil sie:
- mit historischen Vergleichszeiträumen rechnet
- aus geglätteten Monatswerten besteht
- langfristige Durchschnittsreihen verwendet
Diese Methodik ist wissenschaftlich korrekt,
aber politisch entkoppelt von der Realität, die Menschen tatsächlich spüren.
⏳ Kippprozesse laufen – egal, ob wir sie anerkennen
- Permafrost in Sibirien taut schneller als prognostiziert
- AMOC (Golfstromsystem) zeigt Hinweise auf Destabilisierung (Caesar et al., 2021)
- Wälder wie der Amazonas zeigen Nettoverlust an CO₂-Aufnahme
- Korallenriffe befinden sich in einem globalen Bleaching-Ereignis (2023/2024)
- Die Stratosphäre verändert sich – Hinweise auf veränderte Zirkulation
Diese Entwicklungen sind keine Randphänomene,
sondern Hinweise darauf, dass das Erdsystem bereits in die nächste Phase übergeht –
die Phase nach der politischen Steuerbarkeit.
Der Kipppunkt ist kein Ereignis. Er ist ein Zustand.
Nicht eine Zahl entscheidet über die Zukunft –
sondern die Kombination aus Beschleunigung, Rückkopplung und Leugnung.
Im Jahr 2025 steht die Welt nicht bei +1,5 °C.
Sie steht in einem thermischen Übergangsraum,
in dem +3 °C vorbereitet, +4 °C realistisch
und +6 °C systemisch möglich geworden sind –
nicht in 2100, sondern innerhalb dieses Jahrhunderts.
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6 – Warum wir diese Zahlen nicht hören wollen – Das politische Schweigen der Modelle
Die Daten sind eindeutig.
Die Kipppunkte sind bekannt.
Die Risiken sind beschrieben – zum Teil seit Jahrzehnten.
Und dennoch:
Die kollektive Wahrnehmung bewegt sich in einem Korridor aus Abwiegelung, Relativierung und Hoffnung durch Modellierung.
Warum?
Weil die Wahrheit unbequem ist.
Nicht nur wissenschaftlich – sondern ökonomisch, politisch und psychologisch.
📉 Die Modellillusion – warum Emissionsszenarien trügen
Ein Großteil der öffentlichen Kommunikation über den Klimawandel basiert auf Szenarienmodellen:
RCPs (Representative Concentration Pathways), SSPs (Shared Socioeconomic Pathways), Net-Zero-Projektionen.
Sie erzeugen Farbgrafiken mit plausiblen Zukunftspfaden,
die auf Emissionsreduktionen, technologischem Fortschritt und politischer Kooperation basieren.
Doch diese Modelle beruhen auf Annahmen, die in der Realität nicht erfüllt werden:
- Politische Zielvorgaben (z. B. Net-Zero bis 2050) werden nicht umgesetzt
- Technologien wie CCS (Carbon Capture and Storage) sind nicht in großem Maßstab einsetzbar
- Negative Emissionen sind fiktiv, aber fest eingeplant
- Globale Kooperation ist instabil oder nicht vorhanden
➡️ Das Resultat:
Optimistische Szenarien dominieren, weil sie kommunizierbar sind.
Pessimistische Pfade (z. B. SSP3-7.0 oder SSP5-8.5) gelten als „unwahrscheinlich“,
obwohl sie der realen Entwicklung näherkommen.
🧠 Kognitive Dissonanz als Klimastrategie
Ein zweiter Faktor ist psychologisch:
Der Mensch ist nicht darauf ausgelegt, auf abstrakte, globale, systemische Bedrohungen rational zu reagieren.
Stattdessen:
- Vertraut man den Zahlen, die beruhigen
- Zweifelt man an Warnungen, die Handlung verlangen
- Hofft man auf Lösungen, die das Problem externalisieren
Klimakommunikation trifft also auf ein psychologisch defensives Publikum –
einschließlich Entscheidungsträger:innen.
🗳️ Politische Sprache erzeugt Handlungsillusion
Begriffe wie „klimaneutral“, „1,5-Grad-Ziel“ oder „Net-Zero“ vermitteln Handlungsfähigkeit.
Sie sind rhetorische Instrumente,
nicht physikalische Zustände.
Die Realität sieht so aus:
- 1,5 °C wurden faktisch überschritten (zumindest temporär)
- „Net-Zero“ heißt oft: „Irgendwann in der Zukunft vielleicht“
- Reduktionsziele werden verschoben, relativiert oder bilanziell schöngerechnet
(z. B. durch Emissionshandel oder „Waldanrechnung“)
➡️ Das Ergebnis: Klimapolitik als Erwartungsmanagement,
nicht als geophysikalische Reaktion.
📚 Die gefährlichste Lücke: Das Fehlen systemischer Kippsimulationen
Die allermeisten Klimamodelle bilden Kipppunkte nur unzureichend ab –
oder gar nicht.
Warum?
- Zu komplex
- Zu wenig Daten
- Zu schwer quantifizierbar
- Und: zu unkommunizierbar
Dabei zeigen Metastudien (u. a. McKay et al., 2022; Lenton et al., 2008/2019),
dass mehrere Kippsysteme bereits destabilisiert sind
und sich gegenseitig beeinflussen.
Einzelne Modelle sprechen offen davon,
dass das derzeitige IPCC-Framework die Komplexität der Erdsystemreaktionen unterschätzt (z. B. Hansen et al., 2023).
Fazit: Die Modelle schweigen nicht aus Unwissen – sie schweigen aus Rücksicht
Die Modellwelt gaukelt ein Maß an Kontrolle vor, das politisch notwendig scheint –
aber faktisch nicht mehr vorhanden ist.
Klimakommunikation ist zur Gratwanderung geworden zwischen
alarmistischer Wahrheit
und
gesellschaftlich akzeptabler Halbwahrheit.
Doch in einem System, das kippt,
ist Schweigen keine Vorsicht –
es ist eine Entscheidung gegen Vorbereitung.
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7 – Der Planet hat längst geantwortet. Wir rechnen noch.
Es ist längst zu spät für eine Diskussion,
ob der Klimawandel real ist.
Oder gefährlich.
Oder menschengemacht.
Diese Fragen sind beantwortet.
Nicht in Worten, sondern in Temperaturen.
Die Erde hat bereits reagiert.
Sie hat Gletscher verloren, Ströme verschoben, Systeme destabilisiert.
Sie hat Kipppunkte aktiviert, die nur in der Theorie „Zukunft“ waren –
und in der Realität: Jetzt.
Und während das System sich neu ordnet,
arbeiten wir weiter an Korrekturen in Emissionsmodellen,
verhandeln Jahreszahlen,
glätten Grafiken,
und suchen nach Sprachregelungen,
die weniger beunruhigend klingen.
Doch Klimasysteme verhandeln nicht.
Sie kennen keine Rücksicht, kein Moratorium, kein „noch fünf Jahre“.
Nur Energieflüsse, Gleichgewichte, und die Folgen ihres Verlustes.
Der Weg zu +6 °C ist kein unrealistisches Extremszenario.
Er ist das Resultat von Rückkopplung, Beschleunigung und strategischem Schweigen.
Und er wird nicht fair verteilt sein.
Nicht räumlich. Nicht sozial. Nicht historisch.
Die eigentliche Frage ist nicht mehr: „Wie schlimm wird es?“
Sondern:
„Wie lange werden wir noch so tun, als sei es nicht schon da?“
Denn die Erdsysteme haben ihre Antwort bereits formuliert –
in Grad Celsius.
Wir arbeiten noch an der Fußnote.
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📚 Quellenverzeichnis
🔬 Allgemeine Klimadaten und Erwärmungsstatistik
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – Sixth Assessment Report (AR6), Working Groups I–III (2021–2022)
Copernicus Climate Change Service – ERA5 Reanalyse-Daten
➤ https://climate.copernicus.eu/
Berkeley Earth – Global Temperature Dataset
NOAA National Centers for Environmental Information – State of the Climate
Cheng, L. et al. (2023): Another Year of Record Heat for the Oceans. Advances in Atmospheric Sciences.
➤ https://link.springer.com/article/10.1007/s00376-023-2385-2
🌍 Kipppunkte, Rückkopplungen und Biosphärenkollaps
Lenton, T. M. et al. (2008): Tipping elements in the Earth’s climate system. PNAS.
➤ https://doi.org/10.1073/pnas.0705414105
Lenton, T. M. et al. (2019): Climate tipping points – too risky to bet against. Nature.
➤ https://doi.org/10.1038/d41586-019-03595-0
Armstrong McKay, D. I. et al. (2022): Exceeding 1.5 °C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science.
➤ https://www.science.org/doi/10.1126/science.abn7950
Lovejoy, T. E. & Nobre, C. (2018): Amazon tipping point. Science Advances.
➤ https://doi.org/10.1126/sciadv.aat2340
Xu, C. et al. (2020): Future of the human climate niche. PNAS.
➤ https://doi.org/10.1073/pnas.1910114117
🌀 Ozeane, AMOC, Meereis & Albedo
Caesar, L. et al. (2021): Current Atlantic Meridional Overturning Circulation weakest in last millennium. Nature Geoscience.
➤ https://doi.org/10.1038/s41561-021-00699-z
National Snow and Ice Data Center (NSIDC) – Arctic Sea Ice Minimum (2023)
IPCC AR6, WG1 – Chapter 9: Ocean, Cryosphere, and Sea Level Change
➤ https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/
🧮 Klimamodelle, Emissionsszenarien, Kritik
Hausfather, Z. & Peters, G. P. (2020): Emissions – the ‘business as usual’ story is misleading. Nature.
➤ https://doi.org/10.1038/d41586-020-00177-3
IPCC – Scenario Explorer & SSP Public Database (IIASA)
➤ https://tntcat.iiasa.ac.at/SspDb
Hansen, J. et al. (2023): Global warming in the pipeline. Oxford Open Climate Change.
➤ https://doi.org/10.1093/oxfclm/kgad008
📉 Risiko- und Folgenabschätzungen
UNEP Emissions Gap Report (jährlich)
➤ https://www.unep.org/resources/emissions-gap-report
World Meteorological Organization (WMO) – State of the Global Climate Reports
➤ https://public.wmo.int/en/our-mandate/climate/wmo-statement-state-of-global-climate
IPCC AR6 WG2 – Impacts, Adaptation and Vulnerability