Warum ein Rechtsstaat nicht alles darf, was er könnte
In Diskussionen über Polizeigewalt, besonders wenn ein Mensch erschossen wird, fällt oft ein entscheidendes Wort: Verhältnismäßigkeit.
Viele benutzen es, ohne wirklich zu verstehen, was es bedeutet.
Hier eine klare, einfache Erklärung – damit beim nächsten Mal niemand mehr Ausreden vorschieben kann.
Worum geht es?
Im Rechtsstaat reicht es nicht, dass der Staat irgendetwas tun könnte oder irgendwo ein Gesetz existiert.
Staatliches Handeln – vor allem Zwangsmaßnahmen – muss drei Grundsätze erfüllen:
- Geeignetheit: Das Mittel muss überhaupt in der Lage sein, das Ziel zu erreichen.
- Erforderlichkeit: Es darf kein milderes Mittel geben, das denselben Zweck erfüllt.
- Angemessenheit: Der erwartete Nutzen der Maßnahme für die Allgemeinheit muss die Beeinträchtigung der Grundrechte des Betroffenen deutlich überwiegen.
Fehlt auch nur eines dieser Elemente, ist der Einsatz von Gewalt rechtswidrig – egal, wie provokant oder unangemessen sich der Bürger verhalten hat.
Ein überspitztes Beispiel: Die Oma mit dem Eisbecher
Eine 89-jährige Frau läuft durch die Innenstadt.
Sie isst ein Eis, lässt die Verpackung auf den Boden fallen und geht weiter.
Ein Ordnungshüter sieht das und fordert sie auf, stehenzubleiben.
Die Oma hört nicht, läuft weiter, ignoriert jede Ansprache.
Was wäre technisch möglich?
- Anhalten und Ausweis verlangen.
- Körperliche Gewalt anwenden.
- Pfefferspray einsetzen.
- Mit drei Beamten zu Boden bringen und fixieren.
- Strafanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte schreiben.
- Und natürlich: Maschinengewehrsalven und Handgranaten einsetzen, um die Flucht endgültig zu stoppen. (Technisch möglich!)
Was wäre verhältnismäßig?
Nichts davon.
Es geht um einen weggeworfenen Eisbecher.
Die Gefährdung der öffentlichen Ordnung ist praktisch nicht vorhanden.
Die körperliche Unversehrtheit der alten Frau und das Prinzip der Menschlichkeit wiegen unendlich schwerer als ein heruntergefallenes Stück Papier.
Ergebnis:
Man lässt sie laufen.
Man kann sie später identifizieren.
Oder man verzichtet komplett auf eine Maßnahme.
Denn nur weil man könnte, heißt es noch lange nicht, dass man darf.
Verhältnismäßigkeit bedeutet: Maß halten, auch wenn man Recht hat
Selbst wenn ein Bürger sich danebenbenimmt, provoziert oder Regeln verletzt – der Staat darf trotzdem nicht hemmungslos reagieren.
Das Maß der Mittel muss immer gewahrt bleiben.
Einen Eisbecher mit Maschinengewehrfeuer zu beantworten wäre absurd.
Einen weglaufenden Menschen mit drei Schüssen in den Rücken zu stoppen – ebenso.
Das Prinzip ist einfach, aber elementar:
Der Staat darf Gewalt nur einsetzen, wenn sie wirklich notwendig und im Ergebnis vertretbar ist.
Alles andere ist keine Rechtsdurchsetzung – es ist Willkür.
Was das mit aktuellen Fällen zu tun hat
Wenn ein Mensch – egal wie sehr er vorher randaliert, beleidigt oder sogar Reizgas eingesetzt hat – sich abwendet und flieht, dann ist die unmittelbare Gefahr in diesem Moment vorbei.
Die Polizei darf in dieser Situation nicht tödliche Gewalt anwenden, nur weil jemand sich unkooperativ verhält.
Wer das ignoriert, öffnet die Tür zur Legitimation von Exzessen.
Und wer jede Maßnahme rechtfertigt, nur weil jemand sich „falsch“ verhalten hat,
- der kippt das Verhältnis von Bürger und Staat,
- der tritt den Rechtsstaat mit Füßen,
- und der läuft am Ende genau dorthin, wo wir als Gesellschaft nie wieder hinwollten.
Zusammengefasst:
Geeignetheit und Erforderlichkeit sind leicht zu behaupten.
An der Angemessenheit scheitern die Rechtsbrecher.
„Wer die Verhältnismäßigkeit opfert, opfert den Rechtsstaat gleich mit.“