Die Frage, warum Menschen an Gott glauben, ist so alt wie die Menschheit selbst. Es gibt keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis für seine Existenz, und dennoch betrachten sich rund achtzig Prozent der Weltbevölkerung als religiös. Sie glauben an ein höheres Wesen, an eine Art Jenseits, sie beten und feiern Gottesdienste gemeinsam mit anderen. Diese beeindruckenden Zahlen sind nicht nur hoch, sie bleiben auch über die Zeit hinweg erstaunlich stabil. Noch im 19. Jahrhundert gingen viele Wissenschaftler davon aus, Religion sei ein Überbleibsel einer vergangenen Kultur, ein Aberglaube der Ungebildeten und eine Stütze für die Unzivilisierten. Sie nahmen an, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die meisten Menschen der Wissenschaft und Vernunft den Vorrang geben würden.
Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Selbst die USA, das vielleicht modernste Land der Welt, zählen zu den religiösesten Gebieten. Das säkulare Europa bildet eher die Ausnahme als die Regel in einer ansonsten gläubigen Welt. Religion hält sich hartnäckig. Sie hat etwas, das die Menschen nicht loslassen können. Vielleicht erklärt das die Ratlosigkeit vieler Atheisten, die die Faszination für Religion nur schwer nachvollziehen können.
Einige atheistische Denker, wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens, verurteilen Religion scharf. Dawkins bezeichnete sie als „gedanklichen Virus“, während Hitchens in seinem Buch „Gott ist nicht groß“ behauptet, Religion vergifte alles. Doch führt diese harte Ablehnung tatsächlich zu einem tieferen Verständnis des Phänomens? Immerhin zeigt die hohe Zahl der Gläubigen, dass Religion etwas ist, das Menschen über Jahrtausende angezogen hat. Wenn Religion so schädlich wäre, wie oft behauptet wird, warum haben die Menschen sie dann nicht längst aufgegeben? Die meisten Dinge, die sich als nutzlos oder schädlich erweisen, verschwinden irgendwann – Religion tut es offensichtlich nicht.
Stattdessen haben zwei amerikanische Wissenschaftler, Lionel Tiger und Michael McGuire, einen anderen Ansatz gewählt, um das Phänomen Religion zu erklären. In ihrem Buch „God’s Brain“ versuchen sie, das Phänomen nicht zu verurteilen, sondern es wissenschaftlich und neurologisch zu erklären. Ihr Ausgangspunkt ist das Gehirn des Menschen. Tiger und McGuire sind Atheisten, aber sie betrachten Religion als Tatsache, die man ernst nehmen muss.
„Unser Gehirn ist überentwickelt“, sagt Lionel Tiger. „Wir nutzen nur einen Bruchteil seiner Kapazität, und das schafft Probleme.“ Das Gehirn ist so leistungsfähig, dass es ständig beschäftigt werden muss. Wenn dies nicht geschieht, entsteht eine Art Schmerz, den Tiger „brain pain“ nennt. Religion scheint eines der wirksamsten Mittel zu sein, diesen Schmerz zu lindern. Wer betet, singt oder beichtet, betreibt „brainsoothing“, eine Art Beruhigung für das Gehirn. „Das Gehirn ist nicht in erster Linie zum Denken da, sondern zum Handeln“, erklärt Tiger. Nichts belastet es mehr als Ungewissheit. Religion hilft, offene Fragen zu schließen, die das Gehirn belasten würden.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich eine Vergangenheit und eine Zukunft vorstellen kann, und damit auch seine eigene Sterblichkeit. Für das Gehirn, das Eindeutigkeit bevorzugt, um klare Handlungsanweisungen geben zu können, stellt die Unausweichlichkeit des Todes eine unerträgliche Ungewissheit dar. Religion bietet Antworten auf die Fragen „Wozu?“ und „Was dann?“ und schafft so eine gewisse Sicherheit. Sie ist, wie Tiger es nennt, „eine äußerst elegant hergestellte Irrealität, die das Gehirn besänftigt und ihm einen Platz im Universum gibt“.
Interessanterweise zeigt die Forschung von Tiger und McGuire, dass religiöse Rituale neurologische Effekte haben, die sich messen lassen. Menschen, die regelmäßig beten oder religiöse Zeremonien besuchen, fördern die Produktion von Serotonin in ihrem Gehirn – ein Hormon, das für Zufriedenheit und Heiterkeit sorgt. In gewisser Weise sind Gotteshäuser wie Kirchen, Tempel oder Moscheen also „Serotonin-Fabriken“. Die Menschen können dadurch ihr von Zweifeln geplagtes Gehirn beruhigen, und das nicht allein, sondern in der Gemeinschaft der Gläubigen. Das Soziale spielt in der Religion eine zentrale Rolle. Die Rituale, die gemeinsam vollzogen werden, haben eine beruhigende Wirkung, indem sie Ordnung in eine unübersichtliche Welt bringen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Gefühl der Gleichheit, das Religion vermittelt. Vor Gott sind alle Menschen gleich – ob arm oder reich, klug oder weniger gebildet, Sünder oder Heiliger. Es ist ein genialer Kunstgriff: Während die meisten säkularen Ideologien daran scheiterten, Gleichheit auf Erden zu schaffen, gelingt es der Religion, eine klassenlose Gemeinschaft im Irrealen zu erschaffen. Jeden Sonntag entsteht in der Kirche eine Gegenwelt, in der die Hierarchien des Alltags aufgehoben sind.
Selbst die Architektur der Gotteshäuser unterstützt diesen Eindruck. Wer eine Kirche betritt, blickt automatisch nach oben und nach vorn. Es ist, als ob die Architektur selbst die Hierarchie auflöst und dem Gläubigen vermittelt: Hier sind alle gleich. Religion gibt jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und das ist entscheidend für das menschliche Überleben. „Jede Organisation, die das Individuum feiert und ihm das Gefühl gibt, etwas ganz Besonderes zu sein, wird erfolgreich sein“, sagt Tiger. Religion schafft genau dieses Gefühl.
Am Ende stellt sich die Frage, ob religiöse Menschen sich alles nur einbilden. Gibt es keinen Gott? Lionel Tiger hat für sich diese Frage längst beantwortet – er ist Atheist. Doch für ihn ist entscheidend, dass Religion funktioniert. Sie erfüllt einen Zweck, sie besänftigt das Gehirn und bietet Antworten auf die drängenden Fragen des Lebens. Vielleicht mag der Glaube an das Übernatürliche aus einer rationalen Perspektive unsinnig erscheinen – doch für das menschliche Gehirn ist das Übernatürliche völlig natürlich. Religion hilft dem Menschen, die Realität zu meistern, indem sie ihn mit einer Vision des Irrealen tröstet und beruhigt. Und genau darin liegt ihre Macht.
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